Ausgangspunkte

Meilensteine – Annäherung an Rwanda

Annäherung an Rwanda


Seit mehreren Jahren führt Imbuto internationale Seminare mit Jugendlichen unterschiedlicher kultureller Herkunft zu den Themen Förderung von Toleranz und der Achtung der Menschenrechte, gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit durch. Wir setzen uns für interkulturelle Verständigung und ein friedvolles Zusammenleben ein.
Aus dieser Arbeit heraus haben wir das Projekt »Für Frieden und Versöhnung« entwickelt. Sehr viele Jugendliche arbeiten daran mit. Im Rahmen des Projekts haben wir im August 2003 eine Reise nach Rwanda organisiert. Leider konnten nur diejenigen mitfahren, die über die nötigen Reisedokumente und finanziellen Mittel verfügten. Seit mehr als einem Jahr nähern wir uns Rwanda an, z.B. mit Themen wie Kultur und Religion der Großen Seen in Zentralafrika. Es ist ein langer Prozess des Herantastens und des sich Öffnens für Vergangenes, für die Kindheit und eine ungewisse Zukunft.

Vor der Reise bereiten wir uns in zwei mehrtägigen Treffen emotional und kognitiv intensiv auf die Reise vor. Dabei geht es um organisatorische Aspekte wie notwendige Reisedokumente, den Flug, das Gepäck, die Impfungen u.a. Besonders wichtig ist der Prozess der Klärung der Motivation, der eigenen Einstellung zu Rwanda, offen werden für das Unbekannte durch das Formulieren von Ängsten und Hoffnungen, Wünschen und Phantasien zu Rwanda, zur Vergangenheit und zur Gegenwart.

Durch Rollenspiele, Diskussionen, Vorträge und Filme klären wir unsere Erwartungshaltungen, eignen uns mehr Wissen über kulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede an und schärfen die Wahrnehmung für die Situation von Jugendlichen. Wir erfahren mehr über die Lebens- und Arbeitsbedingungen von jungen Menschen in Rwanda, ihre Situation nach Krieg und Völkermord, über die Situation von Waisen. Weitere Themen sind internationale Jugendbegegnungen, die Rolle der Teilnehmenden, Familie und Verhalten in Rwanda, Gesundheitsberatung, Vorbeugung von Malaria, Hygiene etc. Auch die Auswirkungen von Aids und wie wir uns verhalten sollen, werden thematisiert. Lydia, eine Studentin der Psychologie, die gerade aus Rwanda gekommen ist, erzählt uns sehr anschaulich, wie Jugendliche in Rwanda leben. Gisèle und Delphine berichten von Ergebnissen der Studien: »Etre jeune au Rwanda«, die 2003 vom Ministerium für Jugend, Sport und Kultur, Rwanda herausgegeben wurde.

Ein weiteres Thema sind die Agacaca-Verfahren in Rwanda. Arne und Pierrot haben das Thema vorbereitet und am vorletzten Abend vor der Abreise machen wir ein Rollenspiel dazu. Es gibt einen Angeklagten (Arne), Ankläger und Zeugen, die für und wider den Angeklagten sprechen. Es wird eine sehr intensive, aber auch sehr nachdenkliche Diskussion. Wir sehen, wie schwer es ist, Schuld festzustellen und Recht zu sprechen.



In den letzten Monaten sind wir zu einer Gruppe zusammen gewachsen, haben die Reise zu einem gemeinsamen Projekt mit gemeinsamen und individuellen Zielen, Pflichten und Rechten gemacht. Die Gruppe wird während der gesamten Reise zum Zuhause, in der alle Vertrauen und Geborgenheit finden. Auf Grund der brutalen Ereignisse haben viele ihr Vertrauen in andere Menschen verloren. Alle ReferentInnen ermutigen die Jugendlichen und unterstreichen, dass sie sehr viel Mut haben, in das Land zu reisen, das für sie soviel Leid geschaffen hat.

Die Jugendlichen des Zentrums in Kimisagara, mit denen wir gemeinsame Aktivitäten durchführen werden, haben uns Briefe geschickt, mit denen sie sich vorstellen. Unsere Gruppe hat gemeinsam einen Baum der Einheit gemalt »Arbre de l'Unité«, der unsere Wünsche und Hoffnungen für die Zukunft Rwandas symbolisiert und Aktivitäten nennt, die wir gerne in Rwanda machen würden. Da einige Teilnehmende der Reise aus Belgien kommen, benutzen wir während des gesamten Projekts mindestens zwei Sprachen: Deutsch und Französisch, dazu in Rwanda die nationale Sprache Kinyarwanda.

Viele Stunden diskutieren wir, fragen die Verantwortlichen, wie man dieses und jenes macht, wollen mehr wissen: „Welche Themen können wir ansprechen? Was muss ich mitnehmen? Was darf ich nicht sagen? Wie ist die Sicherheitslage? Was kann alles passieren?”

Bei dem internationalen Workshop »Jugend für eine tolerante Gesellschaft – Gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit« im Mai 2003 in Bonn formulieren einige Interessierte an der Reise ihre Befürchtungen und Erwartungen in Bezug auf die Rückkehr in das Herkunftsland Rwanda.

Ich möchte in Rwanda:
  • mit vielen Menschen sprechen,
  • zum Kivusee fahren,
  • mich auf einen Hügel setzen und das Land betrachten, in dem ich geboren wurde,
  • meine Wurzeln wieder finden,
  • ich möchte das Land wieder sehen, in dem ich aufgewachsen bin,
  • ich möchte mit meinem Land Frieden schließen,
  • ich möchte nach Rwanda, weil ich Rwander bin, und das fehlt mir sehr,
  • Kinyarwanda lernen,
  • meine Erlebnisse verarbeiten,
  • die wenigen Freunde, die mir geblieben sind, wieder sehen,
  • die aktuelle Situation im Land sehen und Jugendliche meines Landes treffen, um für eine bessere Zukunft zu arbeiten,
  • meine Familie wieder finden und die rwandische Kultur entdecken, denn wir hatten keine Zeit dazu,
  • schöne Erinnerungen mit nach Hause nehmen,
  • hoffen, dass es soziale und wirtschaftliche Entwicklung gibt,
  • meine Großmutter wieder sehen.


In Rwanda möchte ich nicht:
  • nur in Kigali bleiben,
  • Hass,
  • dass es Gewalt und Krieg gibt,
  • den Krieg noch mal erleben,
  • Angst haben,
  • Bitte! Bitte! Nicht noch mal Krieg,
  • in die Vergangenheit zurückkehren,
  • von meinem Land enttäuscht sein,
  • diese schwere Entscheidung bereuen müssen,
  • Stillstand, keine Entwicklung unter sozialen Aspekten, keine Sicherheit,
  • Gewalt!




Beim ersten Vorbereitungstreffen in Fronhausen (19. 06. 2003 – 22. 06. 2003) klären die Teilnehmenden für sich ihre Nähe und Entfernung zu Rwanda. Sie gruppieren sich so nahe, wie sie sich fühlen, um eine auf dem Boden liegende Landkarte von Rwanda.

Eine Frau ist hin und her gerissen zwischen der Sehnsucht nach Rwanda auf der einen Seite und der Angst auf der anderen Seite. Seit sie 1994 Rwanda verlassen musste, fehlt ihr etwas, so, als ob ein Teil von ihr selbst fehlt. Sie hat Rwanda seitdem vermisst, kann sich sogar noch an den Geruch der Erde erinnern. Dreimal hat sie schon einen Flug gebucht und jedes Mal storniert. Sie freut sich sehr, dass sich jetzt eine Gelegenheit bietet, mit der Gruppe zusammen nach Rwanda zu fahren, denn alleine hätte sie sich nicht getraut.
Eine andere Teilnehmerin sagt, dass sie Rwanda eigentlich beerdigt hatte, aber jetzt möchte sie doch versuchen, sich wieder anzunähern und sehen, was aus Rwanda geworden ist.
Eine Studentin meint, dass sie sich weder große noch kleine Hoffnungen macht. Klar ist für sie, dass sie keinen Schritt mehr auf Rwanda zumacht. Rwanda soll ihr zeigen, was es ihr zu bieten hat.
Ein Teilnehmer kennt Rwanda bis jetzt nur aus Büchern und Seminaren. Er hat sich viel theoretisches Wissen angeeignet und viele schreckliche Dinge gelesen und gehört. Er freut sich, sich einen eigenen Eindruck verschaffen zu können und möchte sehen, wie es jetzt im Land aussieht, wie die Leute leben.
Ein junger Mann sieht seine Zukunft auf keinen Fall in Rwanda. Er findet aber, er sei es seinen Vorfahren und Ahnen schuldig, sich das Land anzusehen, das sie so sehr geliebt haben.
Im Gegensatz dazu spielt ein Student mit dem Gedanken, sich in Rwanda eine Existenz aufzubauen.
Eine weitere Person ist sehr neugierig auf Rwanda, aber sie glaubt, dass ihr Herz inzwischen nicht mehr daran hängt.
Eine junge Frau freut sich einfach, nach fast zehn Jahren die Freunde wieder zu sehen, und vor allem wünscht sie sich, den Ort zu besuchen, an dem die Familie und Freunde begraben wurden, wieder dahin zu gehen, wo sie aufgewachsen ist.

Mit der Reise verbinden wir zahlreiche Erwartungen und Befürchtungen wie:
  • den Hass wieder erleben, der mich aus meiner Heimat gerissen hat.
  • Menschen sehen, die einen Teil meiner Familie getötet haben.
  • Plätze und Orte sowie Gebäude wieder sehen, mit denen ich schlechte Erfahrungen verbinde.
  • In eine Stadt kommen, wo ich meine ganze Kindheit verbracht habe und mich als Fremder fühlen.
  • Erwartungen habe ich nicht. Rwanda ist ein verlorenes Land für mich. Rwanda hat mich enttäuscht. Ich habe Angst, dass uns dort wieder etwas passieren könnte oder dass ich mich richtig frustriert fühlen werde.
  • Dass ich meine Familie wieder sehe, die Landschaft, die Leute.
  • Ich hoffe, dass die Reise gut und ohne ein Unglück verläuft und besonders, dass ich nicht bedauern werde, diese Reise gemacht zu haben.
  • ich weiß gar nicht, was mich erwartet, was ich vorfinden werde. Ich hoffe, es geht gut und ich werde die Menschen sehen, die ich treffen möchte.
  • Einige meiner Freunde wieder treffen, mit denen ich seit dem Krieg keinen Kontakt mehr hatte.
  • Ich habe Angst, keine Anknüpfungspunkte mehr zu haben und zu sehen, dass die guten Erinnerungen, die ich behalten habe, durch das Unbekannte ersetzt werden.
  • Ich bin sehr aufgeregt und nervös vor der Reise. Ich hoffe, wir kommen heil an und dass es ein gutes Gefühl ist, nach etwa zehn Jahren den Boden in Kanombe zu betreten. Andererseits habe ich Angst vor meiner emotionalen Reaktion, ob ich damit klar komme, mit so starken Gefühlen umzugehen? Doch ich denke, es wird kein Problem, da ich mich so gut fühle, alles gemeinsam mit der Gruppe zu erleben.


Nach der Reise haben wir in der Auswertung die Teilnehmenden noch mal gefragt, welche Bilder sie vor der Reise nach Rwanda hatten. Es öffnet sich ein breites Spektrum:

Bilder über Rwanda vor der Reise:
  • Sonnenschein, gute Luft, Kivusee und dann plötzlich Krieg und Zerstörung, ich weiß nicht, woran ich denken soll.
  • Nichts ist klar in meinem Kopf – aber durch die Vorbereitung werden die Bilder deutlicher.
  • Ich hatte wirklich keine bestimmten Bilder im Kopf, ich wollte mich einfach überraschen lassen. Aach ja… manchmal kamen mir die Erlebnisse im Genozid in den Kopf.
  • Die Schule, die ich besucht habe, die schöne Landschaft – Tausend Hügel, die Spuren des Krieges – zerstörte Häuser.
  • Die Menschen, die noch leben, gingen mir durch den Kopf. Ich habe an bekannte Gesichter gedacht, aber zum größten Teil habe ich auch an die letzten Wochen gedacht, bevor ich geflüchtet bin.
  • Soldaten, Streik, Präsidentenwahl, unehrliche Leute, zerstörte Häuser, Friedhöfe, Gefängnis, Gewalt.
  • Die Berge, die Landschaft, meine Familie, die verschiedenen Städte.
  • Ein Aufenthalt in der Gruppe, besonders mit Freunden. Ich hoffte, dass es eine angenehme Zeit mit neuen Abenteuern sein würde und dass wir gemeinsam mit den Jugendlichen von Kimisagara etwas entwickeln würden.
  • Hauptsächlich Bilder von der paradiesischen Natur, die ich so sehr vermisse. Aber vielleicht würde es sich verändert haben, da sich in zehn Jahren viel tut und ich damals noch ein Kind war und meine Umgebung anders wahrgenommen habe.
  • Ich habe sofort bei der Auswahl der Rwanda-Bilder das Bild der tausend Hügel gewählt. Das ist mein geliebtes Rwanda im Kopf!


Am Ende der Vorbereitung erhalten alle Teilnehmenden ein individuelles Tagebuch, in das sie ihre ganz persönlichen Eindrücke, Erfahrungen und Gefühle schreiben sollen.
(Hier können Sie sich das Tagebuch als PDF-Version ansehen: Tagebuch erster Teil | Tagebuch zweiter Teil)

Vielen war, neben dem Austausch innerhalb der Gruppe, die Möglichkeit, die Emotionen und Beobachtungen aufschreiben zu können, sehr wichtig.

Zudem werden täglich zwei Personen für das gemeinsame Tagebuch verantwortlich sein. Hier sollen die verschiedenen Aktivitäten der Gruppe kurz benannt und die Erfahrungen der Gruppe aus der individuellen Sicht beschrieben werden.

Am Abend des 1. August 2003 werden die Koffer gepackt, morgen geht es los.

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