Die Reise - August 2003

Die Reise – August 2003

Veronique Tadjo: Der Zorn der Toten


Auszug aus: Véronique Tadjo: »Der Schatten Gottes – Reise ans Ende Ruandas.« Peter Hammer Verlag, Wuppertal, 2001, S. 51-58

Die Toten besuchten regelmäßig die Lebenden. Wenn sie zu ihnen kamen, fragten sie, weshalb man sie getötet hatte. Die Straßen der Stadt waren voller rastloser Seelen, die in der stickigen Luft umherschwärmten. Sie streiften die Lebenden, setzten sich auf ihren Rücken, liefen neben ihnen, tanzten um sie herum, folgten ihnen durch überfüllte Gassen. Die Toten hätten gern geredet, doch niemand hörte sie. Sie hätten gern all das gesagt, wozu ihnen keine Zeit geblieben war, all die Worte, die man ihnen weggenommen, von der Zunge geschnitten, aus dem Mund gerissen hatte.
Sie waren in allen Vierteln der Stadt. Man konnte sie spüren, wenn sie die Leute hastig überholten. Die Seelen beeilten sich, nach Hause zu kommen, um alle zu besuchen, die sie gekannt hatten, an die Orte zu kommen, die sie geliebt hatten und die ihnen vertraut geblieben waren. Selbst wenn von den Häusern nichts übrig geblieben war als eine Ruine, so genügte ihnen ein Stein, um vergangene Zeiten wachzurufen. Sie schwebten zwischen den Lebenden, die ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgingen und deren Erinnern nachzulassen begann. Die Verwundungen waren noch in ihrem Fleisch, doch sie schlossen sich langsam über den Albträumen.
Man hatte mit dem Zorn der Toten rechnen müssen angesichts der Versäumnisse und nicht gehaltenen Versprechen. Die Lebenden waren bereits wieder nach allen Seiten eingespannt und wussten nicht mehr, womit beginnen. Der Alltag ergriff von ihnen Besitz mit seiner Routine, deren winzige Details ihr Aufbegehren lähmten. Sie vergaßen den Wunsch, sich zu widersetzen und alles, was der verfluchten Vergangenheit glich, zurückzuweisen. Sie fanden mit einem Mal wieder Freude daran, ihren Beschäftigungen nachzugehen.
Wenn die Toten zornig waren, versammelten sie sich auf verlassenen Grundstücken oder zwischen Trümmern, an solchen Orten, die ihr Blut getrunken hatten und ihre Leiden, und sie schleuderten noch einmal die letzten Schreie ihrer körperlichen Hülle aus sich heraus. Der Wind trug ihre Wut mit sich fort und durchbohrte damit die Trommelfelle der Überlebenden. Beklommenheit verfinsterte deren Bewusstsein, machte ihnen die Tage und Nächte unerträglich.
Manche Toten waren so wütend, dass sie sich weigerten zu gehen, wenn der Augenblick zum Verlassen der Erde gekommen war. Besonders einer, dem man den Kopf abgeschlagen hatte und der allen die Schuld gab. Zum Verbündeten hatte er einen sintflutartigen Regen.
Dieser Regen tobte und war dermaßen erbost, dass er sich heulend weigerte, die Tore zur anderen Welt zu öffnen. Mit harten Schlägen trommelte er sein „Nein!“ auf den Boden. Um zu sagen, dass der Tote nicht fortwollte, dass ihm noch vieles zu tun blieb. Dass er das Leben zu sehr geliebt hatte, um es auf diese Weise zu verlassen. „Nein!“ Der Regen peitschte zornig und aufbegehrend, forderte, die Seele da zu behalten, wo sie war. Der Tote jammerte: „Weshalb so früh? Und auf diese Weise? Was wird aus meinem Sprechen, meinem Sehen? Wer setzt das fort, was ich begonnen habe?“ Er warf sich in die vier Himmelsrichtungen des Windes. Zog von Haus zu Haus, von Hof zu Hof, während der Regen weiter fiel und die Menschen in ihren Häusern einschloss. Alles war zum Stillstand gekommen. Der Tote sprach, argumentierte, verhandelte über seinen Verbleib auf der Erde. Doch keiner antwortete ihm, weil alle eingemauert waren in ihrem Schmerz, betäubt von Tränen und von Reue. Der Tote klopfte an Fenster und Türen, doch sie öffneten sich nicht. Er schrie: „Weshalb lasst ihr mich im Stich? Jetzt, wo ich ein Leichnam bin, kennt ihr mich nicht mehr. Fühlt ihr denn nicht, dass ich bei euch bin?“
Man ließ einen Wahrsager kommen, der weit weg in den Hügeln wohnte. Als der ehrwürdige Mann erschien, eingeweiht in alle Geheimnisse des Lebens, begrüßte er den Regen, wandte sich dem Wind zu und lauschte der erzürnten Seele. Er vernahm die Erzählung des Mordes, der Demütigung und Qualen, die der Mann hatte erdulden müssen, bevor man ihn köpfte. Als die Seele verstummte, sprach der Wahrsager einig Worte der Besänftigung und fügte dann hinzu: „Ich weine zwar mit dir, doch weiß ich, dass mein Schmerz niemals an die Grenze deiner Leiden heranreicht, da du von der Rohheit niedergemäht wurdest. Demütig bitte ich dich und alle Toten, mich im Haus der Stille und der Trauer aufzunehmen, in jener Nacht, in der sich Erinnerungen auftun wie Wunden. Ich stehe vor euch allen, vor Tausenden von Toten, und ihr könnt eure brennenden Blicke auf meine armselige Nacktheit richten. Verwundbar stehe ich vor euch, bedürftig der Menschlichkeit. Wer bin ich, dass ich es wage, die Schwelle eures Schmerzes zu überschreiten? Wer bin ich, dass ich euren Zorn störe? Ich bin ein Bettler auf der Suche nach Wahrheiten. Ich bin der im Abgrund unserer Gewalttätigkeit verlorene Mensch. Ich bin einer, der euch bittet, den Lebenden eine neue Chance zu geben.“ Hier hielt der Wahrsager inne. Er ließ sich ein Huhn mit ganz weißen Federn bringen, dessen Unterseite er mit raschem, präzisem Schnitt öffnete. Er nahm die Eingeweide heraus und setzte sich auf den Boden, um sie zu betrachten und die in ihnen verborgenen Zeichen zu lesen. Lange und äußerst konzentriert beobachtete er sie. Als er glaubte, gefunden zu haben, wonach er suchte, verrichtete er ein paar rituelle Opfer und spie Worte in den Wind, die niemand verstand. Plötzlich beruhigte sich der Regen und man vernahm nur noch das gleichmäßige Murmeln seiner Klage, den Refrain der Trostlosigkeit. Bald setzten erste Alltagsgeräusche ein: Stimmenlärm, Rufe, Gegenstände wurden gerückt, Motoren dröhnten, Maschinen irgendwo am Ende der Straße, Musik aus einem Radio. Die Leute verließen ihren Unterschlupf und wagten sich zaghaft auf die schlammigen Straßen hinaus. Das Rollen des Donners kam nur noch von sehr weit. Endlich schien die Natur beruhigt. Da wusste der Tote, dass Schluss sein musste mit seinem Aufbegehren. Er machte sich für den Übergang auf die andere Seite des Daseins bereit. Als kein einziger Tropfen mehr vom Himmel viel, war er fort. Und der Wahrsager wandte sich mit folgenden Worten an die Lebenden: „Jetzt müssen wir die Toten in Würde begraben, die verdorrten Körper und Gebeine, die unter freiem Himmel verrotten, in die Erde legen. Wir dürfen von ihnen nur Erinnerung behalten, die gekrönt wird durch unsere Achtung. Erinnerung ist wie ein in Stahl gehärtetes Schwert, wie Regen im innersten der Trockenheit. Sie ist das Diadem auf dem Haupt der untröstlichen Prinzessin, das Geschmeide auf den Schultern der gramgebeugten Mutter, ein Lichtgewand für den an seinem unendlich großen Verlust zerbrochenen Menschen.
Wir müssen die Toten beerdigen, damit sie uns friedfertig besuchen können, müssen den Zerfall und ihre in die Augen stechende Nacktheit bedecken, damit sie uns nicht verfluchen. Wir müssen den Bildern des Lebens ihr Existenzrecht zurückgeben, damit die von Staub und Gewalt bedeckten Gebeine nicht länger mit Hass beladen sind. Wir müssen sie bitten, uns die Geheimnisse des Lebens zu enthüllen, das wieder die Oberhand gewinnt, denn nur die Lebenden können die Toten auferwecken. Ohne uns sind sie nichts mehr. Ohne sie fallen wir ins Nichts.“ Der Wahrsager hielt einen Augenblick inne, um sich zu vergewissern, dass jeder seine Worte verstanden hatte, und auch, um noch etwas Kraft zu sammeln. Dann fuhr er fort: „Es sind die Toten selbst, die uns bitten, weiter zu leben, wieder die gleichen Dinge zu tun, die gleichen Worte zu sagen, die sie nicht mehr aussprechen können. Wie könnten sie zurückkehren, wenn wir ihnen mit Verzweiflung und Tränen den Weg versperren? Wir müssen ihnen die Türen öffnen, sie hereinlassen, ihnen zeigen, wie wir leben mit unserm Erinnern, das ihnen liebevoll zugewandt ist, freundschaftlich und unserer Pflicht bewusst. Seltsam ist das Universum ihrer Ewigkeit. Das Tribunal der Götter richtet über die Seelen, empfängt sie mit ihren Wunden und Verstümmelungen. Welche Rituale können zurückgelassene, von Hunden und Raben gefressene Leichname noch reinigen? Lasst uns den betrübten Seelen vorausgehen, sie an der Hand nehmen und auf den Weg der Freiheit führen: überwältigende Helligkeit, Feuertreppe, erstes Licht der Schöpfung, Sonnenaufgang, Morgentau auf dem Teppich des Grases. Denn die Zeit altert nicht. Dreihundertsechsundsechzig Tage und das Aufblitzen einer Sekunde sind eins. Vergangenheit und Zukunft sind gleich weit entfernt und führen uns stets zum soeben vergangenen Augenblick zurück.“ Der Wahrsager änderte plötzlich den Ton und sprach jetzt mit einer gewissen Heiterkeit, die sich rasch verbreitete: „Die Toten werden in jeder noch so kleinen Parzelle neu geboren, in jedem Wort, jedem Blick, jeder noch so banalen Geste. Sie werden im Staub wiedergeboren, im tanzenden Wasser, in Kindern, die lachen und beim Spiel in die Hände klatschen, in jedem Korn, das verborgen in der dunklen Erde liegt. Und die Seelen können gehen, wohin sie wollen, nicht mehr tief betrübt in Verdammnis, sondern als leuchtende Strahlen. Alles Böse, was ihnen angetan wurde, muss vernichtet werden, damit die Toten in Frieden ruhen können und das Leben sich von der Last unserer Schuld befreit. Wir werden den Lärm zu lauter Stimmen zum Schweigen bringen und dem Gemurmel unter der Erde lauschen. Sie werden uns sagen, wie wir unsere Leidenschaften läutern sollen, wie den Staub wegwischen und die Steine wegwerfen, die unser Leben versperren. Wir bitten die Toten, das Unglück nicht noch größer zu machen, indem unser Land versinkt, die Lebenden nicht weiter zu quälen, auch wenn sie keine Vergebung verdienen. Wir bitten sie, unsere menschliche Natur zu erkennen, auch wenn wir grausam sind und schwach. Wir haben die Erde besudelt und die Sonne beleidigt. Wir haben die Hoffnung mit Füßen getreten. Gleichwohl bitten wir die Toten, sich nicht länger zu rächen. Uns nicht länger zu schaden, indem sie uns Schwärme böser Geister schicken oder unsere Felder durch schlimme Dürrezeiten verwüsten. Wir bitten sie, uns nicht die Augen auszureißen oder unsere Eingeweide zu essen, noch das zu verschlingen, was unser Werden ausmacht. Wir bitten sie, unsere Herzen nicht im Feuer unseres Daseins verbrennen zu lassen. Wir suchen nach Wegen, sie zu beruhigen, nach Gebeten, sie zu rühren, nach Worten, die nötig sind, damit sie uns nicht mitten in unserm Handeln im Stich lassen und unser Leben für alle Zeiten qualvoll sein wird. Ihre Seelen mögen sich zum Himmel erheben und dort ihr Reich finden, zu dem wir keinen Zutritt haben. Sie sollen die Sterne an unserem Firmament bleiben, die man in dunkler Nacht erblickt und die über viele Generationen hinweg weiter leuchten. Sie sollen mit ihrem kalten Glanz Teil unserer Träume sein. Nie ist jemand aus ihrem Reich in unsere Mitte zurückgekehrt, um zu berichten, wie es ihnen geht, ob sie endlich Frieden gefunden haben oder noch immer eine Zuflucht suchen. Niemand hat berichtet, ob sie noch die Erinnerung in sich tragen an Verwundungen und Verstümmelungen, die unser brudermörderischer Hass ihnen zufügte. Und keiner kann sagen, wie sie uns empfangen werden, wenn für uns die Zeit gekommen ist, ihnen zu folgen. Unsere Angst ist unendlich groß, denn wir befürchten von ihrem Gericht auf ewig verbannt und ins Exil der Qual gestoßen zu werden.“ Die Stimme des Wahrsagers wurde jetzt hart und unerbittlich: „Männer und Frauen, hütet euch vor Rachegelüsten und vor dem ewigen Kreislauf von Gewalt und Vergeltung. Die Toten finden keine Ruhe, solange eure Herzen noch von Hass durchdrungen sind. Die Asche des Krieges ist noch nicht erkaltet. In den Zeichen steht Unheil. Wir dürfen uns keinen Illusionen hingeben, die Gegenwart ist nicht zufrieden stellend. Zu viel Unrecht bleibt im Innersten des Landes verwurzelt. Die Jungen zahlen für die Fehler der Älteren. Jugendliche Horden irren mit glühenden Erinnerungen durch das Land. Selten gibt es Hoffnung. Nur ganz wenige glauben an den Beginn einer neuen Zukunft. Kann die Aussöhnung eines Tages verwirklicht werden?
Ihr lebt zusammen, blickt aber in entgegengesetzte Richtungen. Ihr wohnt nur zusammen, um zu überleben, doch keiner will den ersten Schritt tun. Die Zeichen sagen es: Die Nation ist in Trauer. Der Schmerz kommt in Wellen. Wenn jedoch die Wellen euch verschlingen wollen, denkt daran, dass ihr Herr über eure Emotionen seid.“
Nach diesen Worten wandte sich der Wahrsager um und verschwand zwischen den Hügeln, den tausend Hügeln des Landes.

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